Altes neu denken, Neues entdecken
In einer Welt, die von Bildern überflutet ist, fühlt es sich leicht so an, als sei bereits alles fotografiert worden. Städte, Gesichter, Landschaften, Momente – Millionen davon, nur einen Klick entfernt. Wie also kann man als Fotograf:in heute noch etwas Originelles schaffen? Ist Originalität in der Fotografie überhaupt noch möglich?
Diese Frage steht im Zentrum vieler kreativer Auseinandersetzungen. Ein Blick zurück in die Geschichte – und nach vorn in die Möglichkeiten – kann Klarheit und Inspiration bringen.
Der Mythos: „Alles wurde schon gemacht“
Es stimmt: Der Eiffelturm wurde aus jedem denkbaren Winkel fotografiert. Ebenso der Grand Canyon, der Times Square oder das Gesicht eines Fremden im Regen. Aber Originalität in der Fotografie ergibt sich nicht unbedingt aus dem *Was*, sondern vielmehr aus dem *Wie* und *Warum* des Fotografierens.
Originalität bedeutet nicht, die oder der Erste zu sein. Es geht darum, *authentisch* und *visionär* zu sein.
Lektionen aus der Vergangenheit: Originalität durch Vision
Einige der weltweit bedeutendsten Fotograf:innen wurden nicht deshalb berühmt, weil sie völlig neue Motive fanden – sondern weil sie eine radikal neue Sichtweise mitbrachten.
– Henri Cartier-Bresson verwandelte das alltägliche Straßenleben in Kunst durch sein Konzept des *entscheidenden Moments*. Was zuvor gewöhnlich war, wurde durch seine Linse außergewöhnlich.
– Diane Arbus fotografierte Menschen, die es schon immer gab – marginalisierte, ungesehene – mit Empathie und Mut. Sie zeigte etwas Rohes und Menschliches.


– Andreas Gursky nutzte das Großformat, um sterile, menschengemachte Räume überwältigend und surreal erscheinen zu lassen.
– Nan Goldin verwandelte ihr eigenes intimes Leben und ihre Beziehungen in ein fotografisches Tagebuch – eine Bildsprache voller Verletzlichkeit.
– Edward Weston fotografierte Paprika, Muscheln und Körper – so, dass einfache Formen wie abstrakte Skulpturen wirkten.
Diese Künstler:innen haben keine neuen Motive erfunden. Sie haben unsere Sicht auf das Vertraute verändert.


Wie man heute originell sein kann
Hier sind einige Wege, um eine frische, authentische Herangehensweise in der eigenen Arbeit zu entwickeln:
1. Tiefer statt breiter gehen
Versuche nicht, alles zu fotografieren. Konzentriere dich auf etwas Persönliches, Lokales oder Spezifisches. Fotografiere ein ganzes Jahr lang nur ein Viertel. Kehre zu demselben Baum in jeder Jahreszeit zurück. Durch Nähe entsteht Neues.
2. Innere Landschaften erkunden
Fotografie muss nicht immer die äußere Welt dokumentieren. Wie visualisierst du Erinnerung? Angst? Einsamkeit? Nutze Abstraktion, Doppelbelichtung oder experimentelle Techniken, um Gefühle sichtbar zu machen.
3. Andere Disziplinen einfließen lassen
Kombiniere Fotografie mit Malerei, Video, KI, Klang oder Performance. Denke deine Arbeit als Teil eines größeren kreativen Ökosystems. Originalität entsteht oft an den Schnittstellen verschiedener Genres.


4. Normen hinterfragen
Was sind die „Regeln“ deines Genres? Brich sie. Fotografiere Mode im Supermarkt. Verwende Bewegungsunschärfe in Porträts. Erzähle eine Liebesgeschichte nur mit Schatten und leeren Räumen.
5. Fotografiere, was dir wirklich wichtig ist
Leidenschaft schafft Vision. Wenn dir ein Thema wirklich am Herzen liegt – soziale Gerechtigkeit, Ökologie, Nostalgie, kulturelle Identität – wird das in deiner Arbeit sichtbar. Diese emotionale Energie ist nicht kopierbar.
Technologie als Werkzeug, nicht als Abkürzung
Smartphones, Drohnen, 360°-Kameras und KI-Tools bieten neue Möglichkeiten – aber verwechsle Neuheit nicht mit Originalität. Neue Technik kann beim Experimentieren helfen, aber deine Perspektive ist es, die den Bildern Bedeutung verleiht.
Fazit: Originalität ist eine Sichtweise
Du musst keinen neuen Kontinent entdecken, um etwas Originelles zu schaffen. Du musst das Vertraute mit offenen Augen betrachten. Originalität in der Fotografie entsteht nicht daraus, etwas *noch nie Gesehenes* zu zeigen – sondern etwas, das *immer schon da war*, auf eine Weise zu zeigen, die nur du sehen kannst.
Also los – kehre zurück zu den Straßen, Gesichtern und Ecken, die du zu kennen glaubtest. Vielleicht findest du nichts Neues. Aber vielleicht *siehst* du es – endlich.