„Die Kamera ist ein Instrument, das Menschen lehrt, ohne Kamera zu sehen.“
Dorothea Lange
Eine fotografische Annäherung an die eigene Bildsprache
Ikonen der individuellen Sichtweise
In der Geschichte der Fotografie gibt es Persönlichkeiten, die nicht nur durch technische Meisterschaft, sondern vor allem durch ihre ganz eigene Art zu sehen hervorstachen. Ihre Bilder waren keine bloßen Dokumente – sie waren Ausdruck von Gedanken, Emotionen und Haltung.
Henri Cartier-Bresson, der Meister des entscheidenden Moments, fotografierte nicht einfach, was sich vor ihm abspielte – er antizipierte es. Mit Gespür für Geometrie, Intuition und Mitgefühl fing er flüchtige Szenen in ihrer bedeutungsvollsten Sekunde ein.
Diane Arbus richtete ihre Kamera auf Menschen am Rand der Gesellschaft – nicht als Kuriositäten, sondern als ebenbürtige Individuen. Ihre direkten, kompromisslosen Porträts stellten Konventionen infrage.
Saul Leiter wiederum verwandelte das Alltägliche in eine malerische Komposition. Mit Reflexionen, Glasflächen und Farbflächen ließ er Realitäten in Abstraktion übergehen – und bewies, dass im Unscharfen oft mehr Wahrheit liegt.
Sebastião Salgado dokumentiert mit epischen Schwarzweißprojekten nicht nur globale Not und Hoffnung, sondern vermittelt eine zutiefst humanistische Sicht auf die Welt. Sein Blick erkennt sowohl Leid als auch Würde mit gleicher Klarheit.
Diese Fotograf:innen taten mehr als nur Bilder machen. Sie zeigten – durch ihre ganz persönliche Sichtweise. Das ist der Kern davon, anders zu sehen.
Die Philosophie des Sehens
Anders sehen beginnt mit einer einfachen Erkenntnis: Die Welt sieht für jeden anders aus.
Unsere Herkunft, Kultur, Emotionen, Erinnerungen – all das formt unseren Blick. Fotografieren ist daher nicht nur ein technischer Vorgang, sondern eine Übersetzung des inneren Blicks in ein äußeres Bild.
Anders sehen heißt, das zu bemerken, was andere übersehen. Der britische Kunsttheoretiker John Berger formulierte es treffend: „Wir sehen nur, was wir anschauen. Anzuschauen ist eine bewusste Entscheidung.“
Deine fotografische Vision ist ein Filter. Was interessiert dich wirklich? Was berührt dich? Wo ist deine Neugier? Dort beginnt dein Sehen.
Praktische Tipps für einen anderen Blic
- Langsamer werden.
Das Offensichtliche ist oft nicht das Interessanteste. Geh langsamer. Schau länger. Warte. Viele gute Bilder entstehen nachdem man eigentlich schon weitergehen wollte. - Fragen stellen, bevor du fotografierst.
Was ist hier die Geschichte? Was ist die Stimmung? Was fehlt im Bild? Fotografieren heißt nicht, Antworten zu geben – sondern visuelle Fragen zu stellen. - Studieren statt imitieren.
Schau dir Werke anderer an – nicht zum Nachahmen, sondern zum Verstehen. Was berührt dich an ihrer Bildsprache? Und dann: Kamera nehmen, und deinen eigenen Weg gehen. - Mit Einschränkungen arbeiten.
Begrenz dich: ein Objektiv, ein Ort, ein Farbton, ein Gefühl. Einschränkungen schärfen den Blick. Sie lenken die Aufmerksamkeit vom Was zum Wie. - Über das Motiv hinausblicken.
Hintergründe erzählen Geschichten. Licht formt Stimmung. Schatten flüstern. Reflexionen täuschen. Das Umfeld ist oft ebenso bedeutend wie das Motiv. - Perfektion loslassen.
Technische Perfektion erzeugt selten emotionale Tiefe. Unschärfe, Körnung, schräge Ausschnitte – wenn sie zur Aussage beitragen, sind sie wertvoll. - Ein visuelles Tagebuch führen.
Fotografiere täglich – nicht für das Meisterwerk, sondern fürs Sehen. Ob Handy oder Kamera – der Blick ist wie ein Muskel: Er braucht Training. - Orte wiederholen.
Geh öfter an denselben Ort. Wiedersehen ist ein Schlüssel zum Anderssehen – in anderem Licht, mit anderer Stimmung, anderer Erfahrung.
Anders sehen auf Reisen
Wer mit Kamera reist, trägt mehr als Technik mit sich – man trägt einen Blick. Die Versuchung ist groß, den typischen „Postkartenblick“ einzufangen. Aber genau darin liegt die Gefahr.
Stattdessen: Sei neugierig. Verweile. Achte auf Gesten, Zeichen, Strukturen. Denke in Fragmenten und Emotionen, nicht nur in grandiosen Landschaften. Frag dich: „Wie fühlt sich dieser Ort an – und wie zeige ich das im Bild?“
Ein erfahrener Fotograf sagte einmal zu mir: „Fotografiere nicht, wie es aussieht. Fotografiere, wie es sich anfühlt.“ Das ist der Unterschied.
Abschließende Gedanken
Fotografie ist kein Spiegel der Welt, sondern ein Ausdruck deiner Perspektive. Anders zu sehen heißt, Klischees zu vermeiden, das Offensichtliche zu hinterfragen – und sich auf Details, Stimmungen und Zwischenräume einzulassen.
Du brauchst keine exotischen Orte. Du brauchst Aufmerksamkeit. Ehrlichkeit. Und das Vertrauen, dass deine Sichtweise – so leise oder ungewöhnlich sie sein mag – ihre eigene Gültigkeit hat.
Am Ende sind die stärksten Bilder nicht die mit der spektakulärsten Kulisse. Sondern jene, in denen man die Seele des Fotografen erkennt, der sie gemacht hat.
Mehr entdecken:
In meiner Serie über Minimalistische Landschaften zeige ich, wie „weniger“ zum Schlüssel für intensiveres Sehen werden kann.
Und du?
Was hat deinen Blick auf die Fotografie verändert? Schreib es gern in die Kommentare.

